Benrather Linie
Jede lebende Sprache unterliegt einem ständigen Wandel. So auch die deutsche Sprache. Auf allen Ebenen, also u. a. die der Phonologie, der Syntax, der Semantik bis hin zu den Regeln des sprachlichen Umganges, findet dieser Wandel statt. Auf Grund der zeitlichen Dauer dieses Wandels wird er vom einzelnen Sprecher kaum wahrgenommen.
Die Benrather Linie bezeichnet nun eine geographische Grenze in Bezug auf eine Lautverschiebung, also eines Wandels der Aussprache einzelner Laute. Es gab in der Vorgeschichte des Deutschen nur zwei Lautverschiebungen. Die erste, auf die hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann, kennzeichnet den Übergang vom Indogermanischen zum Germanischen; die zweite Lautverschiebung betrifft das Ende des Germanischen und den Übergang zum Althochdeutschen, also den Zeitraum vom Ende des sechsten Jahrhunderts und dem Beginn des achten Jahrhunderts.
Was ist nun in dieser zweiten oder auch hochdeutschen Lautverschiebung passiert? Das Althochdeutsche gilt als die älteste Sprachstufe des Deutschen, ist allerdings noch keine einheitliche Sprache, es gibt nämlich diverse Dialekte, z. B. Alemannisch, Altfränkisch, Altbairisch, Sächsisch. Bei dieser Lautverschiebung wurden die Laute p, t und k zu f, s und h nach einem Vokal bzw. zu pf, tz und ch im Anlaut bzw. bei Verdoppelung sowie die Laute b, d und g zu p, t und k, wie die nachfolgende Tabelle an Beispielen zeigt:
1. die stimmlosen Verschlusslaute im Anlaut und in der Verdoppelung
Germanische Sprachen | p | t | k |
---|---|---|---|
Perd | settian | wekkian | |
Althochdeutsch | pf, f | (t)s, tz | ch |
Pferd | setzen | wechan (wecken) |
2. die stimmlosen Verschlusslaute nach einem Vokal
Germanische Sprachen | p | t | k |
---|---|---|---|
opan | etan | makon | |
Althochdeutsch | ff/f | ss | (c)h |
offen | essen | machen |
3. die stimmhaften Verschlusslaute b, d, g
Germanische Sprachen | b | d | g |
---|---|---|---|
bairan | daughter | giban | |
Althochdeutsch | p | t | k |
peran (tragen) |
Tochter | kepan (geben) |
Die Konsonantenverschiebung ist die tiefgreifendste Veränderung in der Geschichte der deutschen Sprache. Sie verursachte die Herausbildung verschiedener Mundarten und die Teilung des deutschen Sprachraumes durch die sog. „maken-machen-Linie“, also der Benrather Linie, die das Niederdeutsche vom Hochdeutschen bzw. Althochdeutschen trennt. Der k – ch Gegensatz findet sich auch in den germanischen Schriftsprachen:
Englisch: make | Niederländisch: maken | Deutsch: machen |
Diese zweite Lautverschiebung betraf im Wesentlichen den süddeutschen Raum. Als Grenze gelten hier das Rhein-Main-Gebiet sowie die Mosel. Dort, wo überhaupt keine Lautverschiebung stattgefunden hat, spricht man Niederdeutsch bzw. Plattdeutsch (bzw. Niederfränkisch, Friesisch, Westfälisch, Ostfälisch, Niedersächsisch). Als Grenze zwischen dem Niederdeutschen/Plattdeutschen einschließlich des Niederfränkischen und dem Hochdeutschen gilt die Benrather Linie, benannt nach dem Ort, wo sie den Rhein überschreitet. Sie beginnt östlich der Stadt Eupen, verläuft über Aachen nach Benrath, dann durch das Sauerland bis nach Kassel, weiter in nordöstlicher Richtung an Berlin vorbei bis sie schließlich in Posen endet. Der letzte Abschnitt hat jedoch nur noch historische Bedeutung, da das deutsche Sprachgebiet der einstigen deutschen Ostgebiete bis auf unbedeutende Reste im heutigen Polen nicht mehr existiert. Dass sich die Benrather Linie geographisch relativ genau festlegen lässt, liegt daran, dass sie sich an alten Territorialgrenzen orientiert. Beispielsweise ist linksrheinisch die Nordgrenze des Herzogtums Jülich identisch mit der Benrather Linie, während rechtsrheinisch das Kölner Einflussgebiet im Norden an die Benrather Linie grenzt.
Die Benrather Linie ist das Ergebnis der Forschungen von Georg Wenker (1852 – 1911), der ihr auch den Namen gab. Er befasste sich bereits im Rahmen seiner Dissertation mit dem Thema der räumlichen Verbreitung deutscher Dialekte. Bei seinen Forschungen ging er so vor, dass er zunächst 42 kurze „volkstümliche“ Sätze an Lehrer im Rheinland verschickte mit der Bitte, jene in den jeweiligen Ortsdialekt zu übertragen, eine damals absolut neue Forschungsmethode. Anhand der Rückläufe konnten dann – zunächst nur für die Rheinprovinz, später auch für das ganze Deutsche Reich – Dialektkarten erstellt werden. Diese Forschungen wurden dann von anderen Wissenschaftlern fortgesetzt und führten dann zum „Deutschen Sprachatlas“, dessen Neubearbeitung als „Kleiner Deutscher Sprachatlas“ in den Jahren 1984 bis 1999 erfolgte und schließlich 2001 als Online-Version im Rahmen des Projektes „Digitaler Wenker-Atlas“. Wer besonderes Interesse an den rheinischen Dialekten hat, dem sei die neue Internetseite www.dat-portal.lvr.de empfohlen, die vom Landschaftsverband Rheinland ins Leben gerufen worden ist.
So gesehen ist die Benrather Linie also eine, wenn auch nicht immer absolut scharfe Mundartgrenze, ein sprachgeographischer Einschnitt zwischen der niederdeutschen und der hochdeutschen Sprache. Es wäre sicherlich zur Herausbildung zweier deutscher Sprachen gekommen, wenn sich das Hochdeutsche nicht als Schriftsprache durchgesetzt hätte. Dies geschah einmal durch die Luthersche Bibelübersetzung, aber auch durch die Verwendung des Hochdeutschen als Amts- und Gerichtssprache. Heute wird die Benrather Linie im Rheinland nicht als Sprachgrenze, sondern als Mittel zur Einteilung und Gliederung von Dialekträumen betrachtet.
Stephan Frank